Der Friseurberuf hat im Jahr 2021 kein besonders gutes Image. Der Hauptgrund dafür ist wahrscheinlich der Ruf des Billiglöhners, der den Friseuren seit gut 20 Jahren anhängt. Dabei hat der Beruf auch ganz andere Seiten und viel glanzvollere Zeiten. Wollen wir das ganze Potential dieses ästhetischen Handwerks beleuchten, brauchen wir uns nur an eine Person zu erinnern: Vidal Sassoon. Er revolutionierte die moderne Haarmode in den 1960er Jahren und hinterlies der Welt einen bleibenden Eindruck, als er vom „Schampoo-Boy“ zum internationalen Branchenführer avancierte. 

Schampoo-Boy und Freiheitskämpfer

Vidal Sassoon wurde 1928 in Sheperds Bush in London geboren. Mit nur drei Jahren verließ sein Vater die Familie und ließ sie in bitterer Armut zurück. Für kurze Zeit lebten sie bei seiner Tante, bis seine Mutter ihn und seinen Bruder für secheinhalb Jahre in ein jüdisches Waisenhaus brachte. Nach ihrer zweiten Hochzeit holte sie ihre Söhne zu sich zurück. Mit 14 Jahren vermittelte sie Vidal eine Praktikumsstelle in Adolph Cohens Beauty and Barber Shop. Erst wehrte er sich dagegen, als Shampoo-Boy zu arbeiten, wollte viel lieber Fußballprofi werden. Nachdem er aber im Salon jeden Tag von so vielen hübschen Frauen umgeben war, fand er schon bald gefallen an seiner neuen Berufung.

Nach dem mittelmäßig erfolgreichem Praktikum und seiner Evakuierung aus London während des 2. Weltkriegs wechselte Vidal zu Raymond Bessone, einem derzeit angesagten Londoner Celebrity Hairdresser. Im Jahr 1948 brach dann der Israelische Unabhängigkeitskrieg aus, an dem er sich beteiligte. Dort, „in der Wüste„, machte er sich Gedanken um seine Zukunft:

Als ich nachts zu den Sternen hochschaute, fragte ich mich oft, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich meine, das einzige, was ich konnte, war Haare schneiden, und ich war zu dieser Zeit nicht besonders gut darin. Wenn ich also als Friseur arbeiten sollte, da ich keine andere Möglichkeiten hatte, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, mußte sich entweder das Handwerk ändern, oder ich mich selbst.

Eine ästhetische und technische Revolution

Zurück in London arbeitete Vidal in verschiedenen Salons, bis er 1954 seinen eigenen in der Bond Street eröffnete. Zu dieser Zeit war der Friseurbesuch geprägt von Lockenwicklern, Trockenhauben, Toupierkämmen, unmengen Haarspray und endlosen Sitzungen beim Friseur. Die Frisuren waren hoch, schwer und sehr pflegeintensiv. Die Haarprachten waren glamourös und aufwendig. Mindestens einmal wöchentlich mußten die Frisuren aufgefrischt und erneuert werden, was hauptsächlich den priviligierten Schichten und Frauen reicher Männer vorbehalten war. 

Das sollte sich bald ändern. Die Löwenmähnen und Beehives waren an sich eine hohe Kunst. Aber Sassoon konnte sich nicht mit dieser Art Ästhetik anfreunden. Er lief durch die Straßen der Großstadt und bewunderte die schlichte moderne Architektur. Vor allem das Bauhaus-Prinzip „Form folgt Funktionfaszinierte ihn. Wir sind so weit zurück, dachte er sich, und begann neue, effizientere Frisuren zu entwerfen.  

Ich wollte weg vom altmodischen – wenn auch schönen. Wenn ich Friseur werden sollte, wollte ich etwas ändern. Ich wollte das Überflüssige beseitigen und mich auf die Grundwinkel von Schnitt und Form beschränken. Es dauerte neun Jahre von 1954 bis 1963 und sorgte für viele einsame und verzweifelte Stunden, in denen ich in meiner Wohnung saß und dachte, ich würde meine Zeit verschwenden.

Sassoons Haarschnitte und Styling entwickelten sich zur kompletten Antithese des gängigen Mainstream. Dieser war geprägt vom Establishment, altmodisch und klassizistisch. Gleichzeitig wuchs eine neue Generation heran, die den Status Quo der damaligen Gesellschaft radikal in Frage stellte. In nahezu alle Lebensbereiche drang die Kulturrevolution der 1960er Jahre vor. Swinging London war der Schmelztigel einer neuen Art von Kunst, Mode und Musik.

Vidal Sassoon wurde zu einem Pionier dieser neuen Kultur. Er wollte die Frauen von ihren altmodischen Lasten befreien und sah den Haarschnitt als eine Art Design, das exakt auf die Haar- und Gesichtsstruktur jeder Person abgestimmt war. Das Arbeiten mit Haaren war für ihn „Architektur mit einem menschlichen Element„. Die Frauen mussten nicht mehr jede Woche zum Friseur. Die Haare saßen nicht mehr fix und aufgetürmt, sondern bewegten sich frei und fielen nach jeder Bewegung wieder exakt in die geschnittene Form. Die Privilegien der Oberschicht waren aus der Mode gekommen. 

Dem Zeitgeist auf der Spur

Sein erster großer Erfolg und internationaler Durchbruch gelang Sassoon 1963 mit dem „Kwan-Bob„. Spätestens hier machte er die Modewelt auf sich aufmerksam. Ein klassischer Bob mit modernen, geometrischen Zügen und Winkeln. Die junge aufstrebende Schauspielerin Nancy Kwan trug ihn hinaus in die Welt und auf die große Bühne. Sein Werk war zu sehen auf den Titelblättern der Britischen und Amerikanischen Vogue und in vielen anderen Modezeitschriften. Auf die Frage, wie er sich seiner Sache so sicher sein konnte, antwortete er in einem Interwiew:

Ich hatte neun Jahre an dem Look gearbeitet. Neun Jahre harte Arbeit. Experimentieren, nachts und am Wochenende. Ich wusste, dass Veränderung in der Luft lag. Ich hatte ein tolles Team damals. Wir hatten Ideen und Gestaltungswillen.

Dann kam der Five-Point-Cut und die Bekanntschaft mit Mary Quant. Die bekannte Modedesignerin und Erfinderin des Minirock schwärmte von Sassoons Haarschnitten und sah in ihm einen ebenbürtigen Modeschöpfer. Er „schneidet Haare wie wir Kleider“, sagte sie in einem Interview. Sie verbindet Vidal Sassoon mit der umwälzenden Veränderung in der Gesellschaft, die in den frühen 1960er Jahren stattfand. Das Straßenbild in London begann sich zu wandeln. Dieser Wandel ging weit über das neue, schlichte Design hinaus.

Wenn Sie jemanden in einem Quant-Outfit und dem fantastischen Five-Point-Cut von Sassoon sahen, wussten Sie nicht, ob sie Gräfin war oder jemand, der in einem Geschäft arbeitete. Großbritannien war nicht länger eine verschlossene Art von Klassengesellschaft, es veränderte auch die Art und Weise, wie Frauen über sich selbst dachten.

Die jungen Frauen wurden selbständiger und selbstbewusster. Sie wollten ihre eigenen Wege gehen und nicht länger an konservativen Werten ausgerichtet und bemessen werden. Sassoons Haarschnitte wurden zum Sinnbild dieser neuen Freiheit und Natürlichkeit. Das Leben wie die Frisuren konnten von nun an die eigene Persönlichkeit angepasst anstatt gängigen Normen und gesellschaftlichen Vorgaben untergeordnet zu werden. Ästhetik und Design wurden für alle zugänglich und der Beruf des Friseurs erfuhr dadruch eine neue Bedeutung.

Friseure sind eine wunderbare Art. Sie arbeiten eins-zu-eins mit anderen Menschen und das Ziel ist es, dass sie sich so viel besser fühlen und sich selbst mit einem Augenzwinkern betrachten… Haare mit einer Schere zu formen ist eine Kunstform. Es ist ein Streben nach Kunst.

Vom Künstler zum Weltstar

Bei der reinen Kunst sollte es nicht lange bleiben. Nachdem Sassoon 1968 von Roman Polanski nach Hollywood eingeflogen wurde, um Mia Farrows Haare für den Film Rosemarie’s Baby zu schneiden, wurde er zum Weltstar. Durch den Kinohit mit dem provozierenden Pixie Haarschnitt lernte ihn die ganze Welt kennen. In dieser Zeit eröffnete er einige Filialen seines Friseursalons sowie Schulen und Ausbildungszentren für die Friseurwelt in Europa, Nordamerika und Asien. 

Nachdem er sich einen internationalen Ruf für seine innovativen Schnitte erarbeitet hatte, zog er Anfang der 1970er Jahre nach Los Angeles. 1973 begann er mit der Vermarktung eigener Haarpflegeprodukte mit dem Slogan „wenn Sie nicht gut aussehen, sehen wir nicht gut aus„. Sassoons Stylingprodukte, Schampoos und Conditioner verkauften sich weltweit. Bis zum Verkauf seiner Firmenanteile und seinem Rückzug aus dem operativen Geschäft Anfang der 1980er Jahre erzielte sein Unternehmen einen Jahresumsatz von über 100 Millionen US-Dollar.

Für Vidal erfüllte sich ein Traum, als er sich nach seinem operativen Rückzug aus seinem Unternehmen ganz dem schönen Leben, der Gesundheit und der Philantropie zuwenden konnte. Er trat in TV-Shows auf und schrieb Livestyle-Bücher wie „Ein Jahr der Schönheit und Gesundheit“. Rückblickend bereute er es allerdings, seine eigene Marke verkauft zu haben. In einem Interview mit der Englischen Guardian  gab er zu:

Mein größtes Bedauern ist der Verkauf meiner Firma. Es war der dümmste Fehler, den ich jemals gemacht habe. Das  amerikanische Business ist, wie es ist, sie verkauften ein Jahr später an ein anderes Unternehmen, und alle Versprechen wurden vergessen. Ich war am Boden zerstört.

Vidal Sassoon war selbst überrascht von seinem enormen Erfolg. Sein Unternehmen wuchs und wurde immer komplexer. Zuerst beauftragte er ein externes Unternehmen mit der Herstellung und Vermarktung seiner Produkte. 1983 verkaufte er seine Geschäftsanteile dann vollständig, blieb im Unternehmen aber als Berater tätig. Doch als die Marke Sassoon bereits nach zwei Jahren an einen global agierenden Konzern weiterverkauft wurde, distanzierte er sich immer mehr von ihr. 

Im Jahr 2003 kam es schließlich zu einem juristischen Streit. Vidal warf dem Konzern Vertragsbruch und Betrug vor und klagte vor Gericht wegen Vernachlässigung der Vermarktung seines Markennamens zugunsten anderer Haarpflegeserien des Unternehmens. Die Klage endete in einem Vergleich. Seither war Sassoon nicht mehr mit der Marke verbunden, die seinen Namen trägt.

Sassoons Erbe an die Friseurwelt

Vidal Sassoon wird noch lange nach seinem Tod im Jahr 2012 ein Idol und ein großes Vorbild für die Friseurwelt sein. Sein Leben und sein Erfolg zeigen, was mit Scheren, Kreativität und Hände arbeit möglich ist. Auf die Frage, wie er die zukünftige Entwicklung seiner Branche einschätzt, antwortete er in einem Interview mit Modern Salon.

Nun, ich sehe zwei Dinge. Ich sehe die Menschen mit Leidenschaft und Sorgfalt, die Trainingsabende machen, die Shows veranstalten, die am Fortschritt des Handwerks beteiligt sind. Und dann sehe ich große Unternehmen, die immer mehr Salons übernehmen und nur nach maximalem Gewinn streben. Es gibt keine Übungsstunden, es hat nichts mit Kunst zu tun… Was uns ausmachte war die Leidenschaft, die wir in unsere Arbeit gesteckt haben. Leidenschaft schafft Vision. Das ist Kunst. Schneiden, gestalten, formen… Schließlich machst du etwas, das nicht nur besonders aussieht und sich besonders anfühlt. Der Lohn der investierten Energie kommt auch tausendfach zurück.

Gefragt, welchen Rat er den zukünftigen Generationen von Friseuren geben würde, antwortete er:

Individualität. Wenn es um die Entwicklung des Handwerks geht, wird das, was Sie am besten können, anderen zugute kommen. Es ist ein Gefühl des Bewusstseins, der Freude und des Glücks, das Sie so vielen Menschen schenken… Ich lache manchmal und sage zu mir, Gott, ich wünschte ich hätte eine zweite originelle Idee. Ich würde gerne sehen wie ein junger Mensch mit einer enormen Energie etwas Neues erschafft, etwas anderes, während die Zweifler zu ihm sagen, dass dies nicht möglich ist, dass er pleite geht… Unsinn, wenn Sie zu ihren Wurzeln gelangen, zu dem, wer Sie wirklich sind, können Sie in jedem Bereich etwas daraus machen. Sie werden sich meiner Meinung nach selbst überraschen.